Wenn Menschen auftauen und ihre Stimme wiederfinden

Gestern Abend, am vierten von sechs VOICES Workshop-Abenden, ist etwas passiert, das ich seit vielen Jahren kenne – und das mich trotzdem jedes Mal zutiefst berührt: der Moment, an dem die Gruppe plötzlich warm wird - lebendig, mutig, weich - und die Stimmen anfangen, nicht nur Töne mechanisch nachzumachen, sondern sich selbst zu zeigen.

Ich arbeite seit über 15 Jahren mit Stimmen. Ich habe unzählige Menschen begleitet – junge, alte, laute, leise. Und trotzdem ist dieser Moment, an dem der Knoten aufgeht, immer wieder ein kleines Wunder für mich. Es ist der Moment, in dem Menschen aufhören, sich zu verstecken und anfangen, zu klingen.

✨ Erwachsene kommen oft “eingefroren” – und das ist keine Kritik, sondern ein Fakt

Wenn Erwachsene in einen Stimmworkshop kommen, tragen sie meistens einen unsichtbaren Panzer: Erfahrungen, Selbstzweifel, Scham, diese alte Angst, sich vor anderen lächerlich zu machen. Ich kenne das. Wir alle kennen das.

Und dann komme ich mit Übungen um die Ecke, die herausfordernd spielerisch sind, körperlich, manchmal oft auch albern. Sie führen anfangs zu Unverständnis und Irritationen. “So soll ich singen lernen?” Übungen, die Kinder übrigens mit höchster Wonne machen und sich so richtig dort hinein begeben und austoben. Weil Kinder ihren Klang noch nicht weg-organisiert haben.

Aber Erwachsene? - Erwachsene brauchen erst einmal Wärme, bis sie auftauen. Sie brauchen Humor. Sie brauchen Vertrauen. Sie brauchen Zeit. Sie brauchen jemanden, der klar sagt: "“Hier darfst du du selbst sein – und zwar mit allem - so wie du bist.“

(Anmerkung der Autorin: All diese Selbstzweifel-Symptome, dieses Eingefrorensein, diese soziale Unsicherheit und dieses Lieber-bei-sich-bleiben, ist übrigens nach der Pandemie deutlich stärker geworden.)

✨ Und dann kippt es – Freude & Neugier werden stärker als die Angst

Gestern ist das passiert. Plötzlich lachte jemand, der vorher kaum den Mund aufbekam. Plötzlich traute sich jemand, einen Ton länger auszuhalten und schräg zu klingen. Plötzlich wurde aus einer Gruppe Fremder eine Gruppe Menschen, die im selben Boot sitzen und einfach Spaß haben wollen und wissen wollen, wo geht die Reise hin. Sie lassen sich plötzlich ein.

Das ist der Moment, in dem die Übungen nicht mehr albern sind, sondern Türöffner. In dem die Scham kleiner wird. In dem der Körper wach wird. In dem der Klang wieder Lust bekommt, da zu sein.

Und ganz ehrlich: Ich lebe für diesen Moment! Die Energie, die dabei erwacht, ist unbeschreiblich.

✨ Die große Erkenntnis: Niemand startet bei Null

Ich habe gestern zu meiner Gruppe gesagt:

„Ihr denkt, ihr kommt hierher und seid 17 Menschen, die nicht singen können – und ich bin die eine, die alles weiß. Aber so ist es nicht. Ihr konntet alle schon singen, bevor euch jemand erzählt hat, wie es klingen sollte.“

Denn jeder Mensch hat als Kind Töne nachgeahmt. Melodien erfunden. Tierstimmen imitiert. Gekreischt, gesungen, gejubelt, gekrächzt – ohne Scham, ohne Ziel, ohne Publikum. Ohne Zwang eines Erfolges. Das alles ist nicht weg. Es ist nur verschüttet unter Jahrzehnten von Vorsicht, Erwartungen und „Mach dich nicht zum Affen“ oder “dann muss aber auch was dabei raus kommen..”.

Meine Aufgabe ist nicht, aus euch Opernsängerinnen zu machen. Oder Popstars. Oder DSDS fähig.

Meine Aufgabe ist es:

✨Euch den Zugang zu eurer eigenen Stimme wieder zu öffnen – über Wissen, über Übungen, über Humor, über Körper, über Herz.

Und wenn sich dieser Zugang öffnet, dann passiert etwas, das tiefer geht als ein „schöner Ton“. Die Menschen gehen nach Hause, stehen an der Haustür, atmen ein – und spüren: Da ist gerade etwas in mir aufgewacht. Wärme, Lebendigkeit, eine Form von Stärke, neuer Mut, etwas von mir, das ich lange weggesperrt hatte oder vielleicht noch gar nicht kenne.

Sie haben gestern nicht einfach gesungen. Sie haben ein Stück von sich selbst wieder ans Licht geholt. Und das konnte man sehen und hören! - Und ich? Ich bin dankbar. Dankbar, dass ich einen Weg bereiten konnte und dies mit erleben durfte. Jedes einzelne Mal.

Genau das ist es, warum ich meinen Job so liebe. - DANKE!

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Was zählt, wenn man wirklich Singen lernen will